Bildungswege kann man nicht abkürzen
Sie kennen das vermutlich: Gut gemeint und in bester Absicht möchten Sie den Kindern Erfahrungen, insbesondere unangenehme, ersparen und erläutern ihnen, warum es besser ist, z. B. nicht auf die Herdplatte zu fassen. Oder nicht in die Pfütze zu springen. Oder die Spinne nicht zu ärgern. Sie nehmen den Kindern jedoch die Gelegenheit weg, selbst ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Menschen bilden sich durch eigenes Tun und Denken selbst. Um es mit Hüther (Gerald, Hirnforscher) zu sagen: „Sie können den nicht bilden, hirntechnisch geht das gar nicht!“ Da hilft es nur, sich als Erwachsener die Zeit zu nehmen und die Kinder selbst tun zu lassen, ausprobieren zu lassen. Ja, das dauert länger – und Zeit ist gleichzeitig die wichtigste Investition, genauso wie Aufmerksamkeit, Begleitung und ggf. Unterstützung.
In einem Projekt hatten die Kinder eine Idee, von der die Erzieherin wußte, daß sie nicht gelingen würde. Statt die Kinder aber zu belehren und von ihrem Versuch abzuhalten, ging sie diesen wichtigen Weg für die Kinder mit. Die Kinder hatten eine sehr wichtige Erfahrung gemacht und überlegten, wie es denn dann gehen kann. Das ist es, was Reggio mit „den Spuren der Kinder folgen“ meint.
Die Welt über die Sinne zu erfahren und dadurch zu lernen, das ist die Idee der ästhetischen Bildung. Das hört auch bei Kindern nicht auf, sondern gilt für Erwachsene gleichermaßen. Erwachsene verfügen aber bereits über viel mehr Erfahrungen, gleichen Neues schnell mit Gewohntem ab. Und in unserer schnelllebigen Zeit nehmen sie sich selten die Zeit für Überraschungen. Vielfach glauben sie, die Dinge und Zusammenhänge bereits zu kennen. Erwachsene spielen nicht gerne, überlassen das lieber den Kindern. Es sei denn sie werden in einem Workshop dazu eingeladen und bekommen ausdrücklich Zeit. Dann versinken sie im Tun, kommen ins Flow. „Was, wir haben eine Stunde mit Labellokappen gespielt?“ war die erstaunte Frage von WorkshopteilnehmerInnen in der Remida. In der Reflexion wurde deutlich, wie der Verlauf war, welche Erfahrungen sie gemacht hatten etc. Eine andere Gruppe wollte lieber „schnell, schnell“. Sie fragten im Vorwege: „Sollen wir einzeln oder zusammen…?“, „damit kann man ja gar nicht bauen!“ Wenn man sich die Zeit nimmt, wird man selbst sehen, daß jeder für sich erst einmal beginnt und sich dann der Aufmerksamkeitsradius öffnet – zu zweit, zu dritt, in der ganzen Gruppe. Das passiert in der Regel von allein. Die Menschen sehen dann sehr schnell, was andere machen und ausprobieren. Und wenn das mit dem Ineinander-Stecken nicht klappt, kann man beim Nachbarn gut beobachten, was dort die Idee ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, knüpft Beziehungen, lernt von und mit anderen. Dazu braucht man Zeit und die gibt es genau deswegen üppig bei den Spielplätzen in der Remida. Irgendwann bekommt die Dynamik eine Delle, dann ist das erste Gebilde fertig und vielleicht kommt ein wenig Langeweile auf. Für mich der entscheidende Punkt im gemeinsamen Tun. Ein Moment des Suchens, der Verunsicherung in dem etwas Neues passiert. Langeweile hat jedoch einen ganz schlechten Ruf, da muss schnell Animation her. Nein! Langeweile will genossen und ausgehalten werden. Sie kann schöpferische Quelle sein.
Auf Erfahrungen muss man sich einlassen (können). Offen sein. Sich entspannen. Ungewißheiten aushalten. Über das vorschnelle „Kenn-Ich, Weiß-Ich“ hinabtauchen. Dann hätte auch die andere Gruppe bei dem Eimer voll Labellokappen das Phänomen „Gleiches Material in Großer Menge“ entdeckt, wären eingetaucht in die Welt von Mustern und Reihen, hätten eine Idee vom Mathematik erfinden bekommen, hätten sich bereichert, ausgetauscht, gefreut… aber so weit kommt man nicht in 10 Minuten. Da kann ich auch nichts Theoretisches beitragen. Es gibt einfach Dinge, die muss man erleben – dann bleibt es hängen. Und: Umwege erhöhen die Ortskenntnis